S. Hanss u.a. (Hrsg.): Mediterranean Slavery Revisited

Cover
Titel
Mediterranean Slavery Revisited (500–1800) – Neue Perspektiven auf mediterrane Sklaverei (500–1800).


Herausgeber
Hanss, Stefan; Schiel, Juliane
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
587 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michael Zeuske, Iberische und lateinamerikanische Abteilung des Historischen Seminars, Universität zu Köln

„Das Thema der Sklaverei boomt“ ist das Motto dieses Buches. Das ist wohl so. Vor allem aber soll vorliegendes Buch ein Forschungsfeld, das der mediterranen Sklaverei, neu konstituieren. Das kann man von vornherein konzedieren – mit diesem schönen und gutgemachten Buch ist ein ernst zu nehmender Kristallisationspunkt gelungen. Vielleicht ist es sogar gelungen, den Mediävisten-Fluch Marc Blochs zu brechen. Dieser Fluch, der wohl aus der Rolle Frankreichs als Kolonial- und Sklavenhandelsmacht resultierte, kann auf alle Nationalhistoriografien Europas erweitert werden: Marginalisierung von Sklavenhandel und Sklavereien im Sinne von kleinreden, verschweigen und weißwaschen hat es quasi überall in Westeuropa und sogar Mitteleuropa gegeben und gibt es, vor allem in neoliberalen systematischen Wissenschaften, heute noch. Gerade Portugal und Spanien, die als nationale Sklavenhandels-Akteure für ungefähr die Hälfte der rund 12 bis 13 Millionen zwischen 1500 und 1880 aus Afrika Verschleppten und für die bedeutendsten Plantagen-Massensklavereien verantwortlich waren, sind trotz einiger rühmlicher Ausnahmen noch heute Paradebeispiele für die Marginalisierung der Forschungsfelder Sklaverei (Rassismus) und Sklavenhandel.1

Stefan Hanß, neben Juliane Schiel der Herausgeber, schreibt an anderer Stelle sehr schön, dass vielen Historikern, nachdem sie Marc Bloch gelesen hatten, „die Verwendung des Wortes ‚Sklave’ in mediävistischen Studien lange als ‚eine Art Häresie’“ erschienen sein musste, weil sie servus mit „Knecht“ und nicht mit „Sklave“ übersetzten.2 Natürlich gab es im 20. Jahrhundert, vor allem mit dem monumentalen Werk Charles Verlindens (neu) einsetzend, immer auch unter den Mediävisten Historiker und Archäologen, die fokussiert Sklavereien und Sklavenhandel untersucht haben. Zweierlei bleibt aber wohl unbestritten: Einerseits konnten sich die Arbeiten zur Sklaverei in der byzantinischen Welt lange Zeit auch nicht gegen den Bloch-Fluch durchsetzen. Eine Änderung erleben wir vielleicht gerade – dank des Werks von Youval Rotman3 und sicherlich auch wegen den intensiven Forschungen zur Spätantike/Frühmittelalter und zum Schwarzmeer-Raum. Und andererseits kamen die entscheidenden Impulse zum Aufschwung der Sklaverei-Forschungen und zur Re-Konstituierung der europäischen und mediterranen Sklaverei als eigenständigem Forschungsfeld sozusagen aus der Zukunft – aus den Forschungen zur Atlantic slavery und zur Rolle von Sklaverei und Sklavenhandel in der globalhistorisch orientierten Afrika-Forschung.

Beim vorliegenden Sammelband handelt es sich um die Publikation der Ergebnisse der Tagung „Transcultural Perspectives on Late Medieval and Early Modern Slavery in the Meditarranean“, die im September 2012 an der Universität Zürich stattfand. Der Einführungs-Essay der Herausgeber nimmt die Grobgliederung des Bandes vorweg: Semantiken, Praktiken und transkulturelle Perspektiven. Der diskurshistorische Ansatz findet im ersten Teil Anwendung auf die Frage „Erlöschen oder Abolition“ der Sklaverei im nichtmediterranen Europa (Mathieu Anroux), auf Sklaverei in Renaissance-Kroatien (Neven Budak), auf Versklavte aus dem Maghreb im frühneuzeitlichen Spanien (Aurelia Martín Casares), auf die Debatte um die Sklaverei in Russland (William G Clarence-Smith), die Sprache der Sklaverei in Genua (Steven A. Epstein) sowie auf die Formen von Sklavereien in Siam (Sven Trakulhun). Der textorientierte und diskurshistorische Ansatz ist im ersten Teil nicht durchgängig gehalten worden – zum Glück, muss man mit Blick auf die Debatte zur Sklaverei in Russland und zu den Darlegungen über Sklaverei und Sklavenstatus in Siam sagen.

Der zweite Hauptteil erfasst (meist) quellenbasierte Artikel zu Praktiken der Sklaverei: individuelle Haussklaven bzw. Hausbedienstete und ihre Lebensbedingungen in Byzanz (Günter Prinzing); Giftmordvorwürfe und Haussklavinnen in Venedig (Juliane Schiel); Liebes- und Paarbeziehungen zwischen einem genuesischen Händler und seiner Sklavin, zugleich Geliebte und Mutter seines Kindes in Valencia im 15. Jahrhundert (Debra Blumenthal); Königspalastbau in Meknès/Marokko (Robert C. Davis); ein Essay von Andrea Pelizza über Organisation und Loskauf von Versklavten aus Venedig; Maria Pedi Pedani über versklavte Venezianer im Osmanischen Reich, von denen einige in die herrschende Schicht der Osmanen aufstiegen, aber oft ihre Bindungen zu den Familien in Venedig aufrecht erhielten; die sehr quellengesättigte Studie von Stefan Hanß zu den Gefangenen- und Sklavenlisten der Seeschlacht von Lepanto; die interessanten sozialgeschichtlichen Fall-Studien zu lokalen Manumissionen in Istanbul von Suraiya Faroghi; die Anwendung des James Walvin-Konzeptes der „Kulturen des Widerstandes“ auf Sklaven im Osmanischen Reich durch Hayri Göksin Özkoray. Der zweite Teil ist zweifelsfrei der Kern des Bandes. Die Re-Konstituierungsbemühungen zur mediterranen Sklaverei können sich erfreulicherweise stark auf transkulturelle sowie transdisziplinäre Anregungen aus der internationalen Sklaverei-, Sklavenhandels-, Manumissions- und Widerstandsforschung stützen.

Der dritte Hauptteil zu den transkulturellen Dimensionen mediterraner Sklaverei beginnt mit einer quellenkritischen Studie zur mittelalterlichen Geschichte und dem Sklavenhandel von Menschen aus den kleinen jüdischen Gemeinden des frühmittelalterlichen Europas von Michael Toch; Salvatore Bono präsentiert eine systematische Darstellung der Hauptformen mediterraner Sklavereien und der Unterscheidungen zwischen Sklaven, Gefangenen und Sträflingen; ein ebenso wichtiges Gebiet, dass alle Arten von Sklavereien und Sklavenhandelsformen betrifft und im Wesentlichen bisher für Haussklavereien und Plantagensklavereien untersucht worden ist, behandelt Eric R. Dursteler in seinem Aufriss zu „Sklaverei und Sex“; Sally McKee weist in einem originär transkulturellen Forschungsaufriss zu sexuellen Diensten von Haussklaven darauf hin, dass Haussklaverei (und implizite sexuelle Dienste) in Westeuropa zurückgingen, aber in den vorwiegend westeuropäischen überseeischen Kolonien zunahmen und im Osmanischen Reich etwa gleich blieben; Nabil I. Matar analysiert in einer mikrohistorischen Fallstudie individuelle Schicksale britischer Gefangener in Salé (Marokko) im 18. Jahrhundert und James S. Amelang schlägt in seinem Beitrag über Sklavenbiografien und Selbstzeugnisse von Versklavten und Gefangenen die Brücke einerseits zur Literaturgeschichte sowie zu Problemen postkolonialer Agency und andererseits vom Mittelmeer zum Atlantik.

Ein roter Faden des Bandes ergibt sich aus dem in mehreren der Beiträge korrespondierenden Versuch, slave agency „on a local level of everyday practice“ handhabbar zu machen, und damit für eine „new social history from below“ zu plädieren, „which no longer looks at slaves as a separable social group with distinguable characteristics, but as individuals being an integral part of Mediterranean societies at the time“ (S. 201). So widmen sich die Beiträge von Prinzing, Schiel, Blumenthal, Dursteler und vor allem McKee denn auch den Themen Emotionen, Liebe, Paarbeziehungen, Sex, Liebesdienste und Elternschaft sowie Sorge um den Anderen als neue Dimension der Agency. Blumenthal schießt etwas über das Ziel der Re-Konstituierung der Sklaven-Agency des Mediterraneums hinaus, indem sie bezüglich der Liebesbeziehungen zwischen Herr und Sklavin konstatiert: „slavery as practiced in late medieval Italy differed in substantive ways from that practiced in the Americas.“ (S. 230) Selbst in den dynamischsten Zeiten der Second Slavery in den Amerikas, sprich in den härtesten Zeiten atlantisch-amerikanischer Wirtschafts-Sklavereien, hat es Agency von Sklavinnen und Sklaven sowie von ihren Besitzern / Herren (oder Herrinnen) in Bezug auf Liebes-, Paar-, Heirats- und Mutter-Kind-Beziehungen gegeben.4

Zum Schluss offenbart Ludolf Kuchenbuch unter dem Titel seine „zehn Zürcher Gebote für künftige Forschungen zur Sklaverei“. Die Summa eines langen Forscherlebens mit mittelalterlichen Texten und ihrem Sinn dürften die Gebote 4 (Diskurskonstruktionen) und 6 (Ontologie der Rollen „Sklave/Knecht“ und „Herr“) zum Ausdruck bringen: „Betrachte und behandle die Dokumente als Fragmente einer vergangenen, ja verschlossenen Sinnwelt. Die initiative Methode, mit der du ihrem internen Sinn beikommen kannst, ist die linguistische Semantik. Die systematische, das heißt die lexikalische Aufschlüsselung des ungewohnten Sinns des Vokabulars (Wort- und Sinnfelder) und die des Sprachstils der Dokumente sollte am Anfang stehen. Die textuelle Deutung (hermeneutische Interpretation), ohnehin unerlässlich, sollte folgen. […] 6. Sei und bleibe dir der Fluidität der servilen Positionen, Lagen, Verhältnisse bewusst. Versuche, die servi, famuli, serf, schiavi, Sklaven, Knechte und ihre sogenannten masters, Herren, domini rundum als Leute zu verstehen, die unentwegt ihre Situation zu ihren Gunsten zu ändern suchen und sich entsprechend offen oder versteckt auszudrücken verstehen“. (S. 559–562)

Zwei kleine Wermutstropfen zu diesem sehr gelungenen und empfehlungswerten Buch: Zum einen es gibt keine Karten. Zum andern wird „transkulturell“ (Transkulturation) leider mittlerweile als forschungsstrategische Kleingeldmünze betrachtet. Es ist aber neben dem Konzept der Slave Agency das zweifelsfrei wichtigste Konzept gegenwärtiger Kulturgeschichte und für das mittelalterlich-frühneuzeitliche Mediterraneum ebenfalls ein atlantisch-karibischer Import aus der Zukunft, das sich dem „Postkolonialismus vor dem Postkolonialismus“ eines Fernando Ortiz (1881–1969) verdankt. Ich weiß natürlich, dass quellenorientierte Mikrohistoriker leeres konstruktivistisches Konzeptgeklingel scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Ein gesondertes Konzept- oder gar Theoriekapitel möchte man deshalb gar nicht anmahnen, aber, da etwa Walter Johnson bekannter Artikel „On Agency“ zitiert ist, wenigstens einen Verweis auf Ortiz und das Konzept der Transkulturation. Dieses ist auch für das Mediterraneum wichtig, wie schon im Titel der Tagung von 2012 deutlich wird.

Anmerkungen:
1 Alex Borucki / David Eltis / David Wheat, Atlantic History and the Slave Trade to Spanish America, in: The American Historical Review Vol. 120 (2015), S. 433–461.
2 Stefan Hanß, Sklaverei im vormodernen Mediterraneum, in: Zeitschrift für Historische Forschung Vol. 40 (2013), S. 623–661, hier S. 628.
3 Youval Rotman, Les esclaves et l'esclavage. De la Méditerranée antique à la Méditerranée médiévale, VIe – XIe siècles, Paris 2004.
4 Karen Y. Morrison, Slave Mothers and White Fathers: Defining Family and Status in Late Colonial Cuba, in: Slavery & Abolition 31 (2010), S. 29–55; Rebecca J. Scott / Jean-Michel Hébrard, Freedom Papers: An Atlantic Odyssey in the Age of Emancipation, Cambridge 2012; zur Second Slavery siehe: Dale Tomich / Michael Zeuske (Hrsg), The Second Slavery: Mass Slavery, World-Economy, and Comparative Microhistories, 2 Bde., Binghamton 2009.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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